#15 Nachdenkliche Erkenntnis - oder - ist kalte Stückgare das Nonplusultra?
Als wir die Bäckerei vor zehn Jahren übernahmen, gab es quasi keine Kühlfläche. Der Traum und das Ziel war Kühlfläche, um vor allem Kleingebäck über "Nacht" im Kühlhaus zu lagern. Das brachte uns zum einen Entlastung in den Nachtstunden aber auch ein besseres Produkt, was Geschmack, Farbe, Rösche usw. angeht. So meine Vorstellung. Ich war der Überzeugung: kalte Stückgare über Nacht ist per se besser.
Durch die Umstellung unserer Backwaren vollends auf Bioqualität und den damit verbundenen Backversuchen stelle ich diese These in Frage und komme zu dem Schluss, dass die klassische Stückgare von Kleingebäck über Nacht, wie sie in den allermeisten Bäckereien inzwischen praktiziert wird, eigentlich nur durch den Einsatz von Backmitteln überhaupt möglich ist. Das heißt: Als der Trend zur Übernachtgare begann, war der Einsatz von Backmitteln ja eh schon gang und gäbe und so war mir lange nicht klar, dass es ohne diese Backmittel verdammt schwierig wird, das überhaupt hinzubekommen. Wir hatten in unseren Brezeln und Brötchen bis zur Umstellung ein koventionelles Backmalz im Einsatz, das ohne technische Enzyme auskommt. Das war mein Kompromiss, den ich mir eingestand bis wir den Sprung auf Bio vollends schaffen.
Ich dachte durch Umstellung der Rohstoffe und ein paar Feinjustierungen am Rezept kriegen wir das hin mit Bio. Doch nun muss ich feststellen: Eigentlich müssen wir unseren kompletten Prozess und das, wie wir bisher dachten, hinterfragen.
Jetzt sehe ich es so: Der Trend hin zu immer längeren und dabei relativ kalten Führungen ist eigentlich eine Fehlentwicklung! Bäckereien versuchen sich gegenseitig mit immer noch längeren Reifezeiten zu übertreffen. Und die Kunden im Laden fragen nach dem Brot mit der längsten Reifezeit. Dabei ist diese Frage gar nicht vollständig. Denn die Frage ist doch: Bei welcher Temperatur reift denn mein Brot oder Brötchen? Was bringt mir eine lange Reifezeit bei kalter Temperatur, bei der die Aktivität der Prozesse derart verlangsamt ist, dass vielleicht sogar weniger "passiert" als bei Teigführungen, die z.B. mit einem hohen Vorteiganteil (über Nacht bei 20 °C) und einer Teigreifezeit (Stock- und Stückgare) von z.B. 6-8 Stunden auskommen?
Meine Feststellung ist nämlich, dass ohne Zusätze von Weizenkleber oder ähnlichen Zutaten, die sich stabilisierend auf das Klebergerüst auswirken, eine Stückgare in der Übernachtführung nur schwer bis gar nicht hinzubekommen ist. Ich rede hierbei ausdrücklich von Kleingebäck wie Brötchen oder Brezeln.
Den einzigen "Vorteil" sehe ich darin, dass man sich mit dieser Methode nachts Zeit sparen kann. Und dass man durch die Möglichkeit der Vorproduktion in den stressfreieren Zeiten ein breiteres Sortiment und volle Regale zu Ladenöffnung anbieten kann. Wenn Bäckereien, so wie wir jetzt, versuchen, ohne Hilfsmittel das Gleiche zu erreichen, weil die Kundinnen und Kunden es ja nicht anders kennen, wird es ganz schön schwierig: Die Aufgabe liegt nämlich darin, den Kunden zu erklären, warum unser Brötchen das Bessere ist, obwohl es vielleicht nicht mehr zu jeder Tageszeit verfügbar ist (längere Planung notwendig, evtl. reicht auch die Zeit nachts nicht um alles frisch zu produzieren). Der Kunde und die Kundin fragt sich, warum wir das vielleicht nicht hinbekommen, kurzfristig mehrere hundert Brötchen nachzubacken. "Aber bei den anderen geht es ja auch". Was im Brötchen drin steckt, lässt sich eben schwer zeigen und auch die Auswirkungen etwaiger Zusätze haben kurzfristig ja keine Auswirkung.
Das stimmt mich auf der einen Seite nachdenklich, auf der anderen Seite bin ich aus zweierlei Gründen auch froh über diese Erkenntnis. Zum einen habe ich wieder viel gelernt, was Backmittel eigentlich bewirken, wie sie arbeiten und auch wie es ohne gehen kann. Zweitens liebe ich es, mich in Themen einzuarbeiten, Abläufe, Prozesse zu optimieren und das Produkt am Ende noch besser zu machen.
Schreibe mir gerne, wenn Du andere Erfahrungen ode Erkenntnisse hast.
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